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I N H A L T
A. Kruse u. G. Rudinger "Psychologie der Erwachsenenbildung"
"Lernen und Leisten im Erwachsenenalter"
  Kristallisierte und fluide Intelligenz        Einflüsse auf Intelligenz  
Kristallisierte Intelligenz Ausgangsbedingungen
Fluide Intelligenz Leistungsfähigkeit im Kontext der Lern- und Gedächtnisforschung
kognitives Training Verluste, Kompensationsmöglichkeiten, spezifische Gewinne
Praktische Intelligenz Lernstrategien
Veränderungen der Intelligenzstruktur im Erwachsenenalter Einflussfaktoren der Lern- und Gedächtnisleistung im Alter
"praktische Intelligenz"  
 

aus: "Psychologie der Erwachsenenbildung", A. Kruse u. G. Rudinger "Lernen und Leisten im Erwachsenenalter",
Hogrefe Verlag, Göttingen, 1997, S. 50 ff


Kristallisierte und fluide Intelligenz

Die bekannteste psychometrische hierarchische Strukturtheorie von Horn und Cattell (1966) unterscheidet auf einer ersten Ebene g für generelle, allgemeine Intelligenz, auf einer zweiten Ebene gf für fluide Intelligenz, gc für kristallisierte Intelligenz, gv für Visualisierung, ga für auditive Funktionen, gs für allgemeine Geschwindigkeit, SAR für shortterm acquisition and retrieval und VpT für verbal productive thinking (Horn, 1978). Die Seattle Längsschnittstudie von Schaie (1996) deckt im kognitiven und intellektuellen Bereich das gesamte Spektrum dieser hierarchischen Theorie ab. In der Diskussion über Veränderungen der kognitiven und intellektuellen Leistung wird das Hauptaugenmerk jedoch auf die beiden Bereiche kristallisierte und fluide Intelligenz gelegt, da diese beiden Komponenten der Intelligenz über die Lebensspanne auf unterschiedliche Art und Weise Kohorten- und Alternseinflüssen ausgesetzt sind: altersgebundene Einbußen zeigen sich im Bereich der fluiden Intelligenz, Gewinn oder Wachstum, zumindest aber Stabilität dagegen im Bereich der kristallisierten Intelligenz.

Kristallisierte Intelligenz umfasst vornehmlich jene Fähigkeiten, die zur Lösung vertrauter kognitiver Probleme notwendig sind. In dieser Intelligenzkomponente spiegeln sich die vom Individuum rezipierten und organisierten Wissensinhalte und -systeme wider, die für jene Gesellschaft und Kultur charakteristisch sind, in der es lebt. Messwerte der kristallisierten Intelligenz indizieren, in welchem Ausmaß sich ein Individuum Verhaltensweisen und Strategien angeeignet hat, die in der dominanten Kultur als intelligentes Verhalten betrachtet werden. Kristallisierte Intelligenz bezieht sich also auf die inhaltliche Ausgestaltung des Denkens und Wissens. Sie wird gemessen im Denken mit Kulturinhalten wie Sprache, interpersonalen Aspekten der Kommunikation, beruflichem Wissen etc.

Fluide Intelligenz umfasst Fähigkeiten, die sich relativ unabhängig von systematischen Akkulturationseinflüssen entwickelt haben. Es handelt sich um die grundlegende biologische Lernkapazität des Individuums, um die (neuronalen) Vernetzungen des kognitiven Systems. Hierzu gehören Basisprozesse der Intelligenz. Gemessen wird fluide Intelligenz durch die Vorlage möglichst neuartiger, kulturfreier Aufgaben (zum Beispiel figürliche, bildhafte Darstellungen, einfache Symbole).

Aufgrund der hohen alltagspraktischen Relevanz, die Wissensinhalte und -systeme besitzen, wird die kristallisierte Intelligenz auch als "Pragmatik der Intelligenz" bezeichnet (siehe vor allem Baltes, 1990; Dixon & Baltes, 1986). Dabei differenziert Baltes (1990) zwischen zwei grundlegenden Formen des Wissens: dem "faktischen" und dem "prozeduralen" Wissen. "Faktisches" Wissen beschreibt Kenntnisse in bezug auf einzelne Lebensbereiche (zum Beispiel den Beruf, einzelne Interessensgebiete). "Prozedurales" Wissen beschreibt hingegen Kenntnisse in bezug auf Strategien, die notwendig sind, um die Anforderungen in einzelnen Lebensbereichen (zum Beispiel im Beruf) zu meistern. Fluide Intelligenz wird auch mit dem Begriff der "Mechanik der Intelligenz" umschrieben, da sie grundlegende Prozesse der Informationsverarbeitung und des Problemlösens umfasst, die als unabhängig von den spezifischen Inhalten, die bearbeitet werden, angesehen werden. Die fluide Intelligenz, die die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Lösung neuartiger kognitiver Probleme beschreibt, ist in sehr viel stärkerem Maße als die kristallisierte Intelligenz an intakte neuronale Strukturen und Prozesse gebunden.

Wie entwickeln sich kristallisierte und fluide Intelligenz im Erwachsenenalter und Alter? Arbeiten zu diesem Thema konzentrierten sich lange Zeit auf die Frage, in welchem Ausmaß Intelligenz im Erwachsenenalter und Alter abnimmt. Es wurden sehr viel weniger Arbeiten zur Frage veröffentlicht, ob sich Intelligenz verbessert und ob diese gefördert werden kann. Die Diskussion ist dadurch differenziert worden, dass man die beiden Intelligenzkomponenten separat betrachtete. Aus den zahlreichen Untersuchungen zur Intelligenzentwicklung lassen sich empirisch gestützte Aussagen zu den unterschiedlichen Entwicklungsverläufen in den beiden Intelligenzkomponenten ableiten. Während in der fluiden Intelligenz schon ab dem Erwachsenenalter Einbußen erkennbar sind, die mit zunehmendem Alter gravierender werden, findet sich in der kristallisierten Intelligenz ein deutlich höheres Maß an Stabilität. Werden im Erwachsenenalter und Alter Erfahrungen ausgebaut und Wissenssysteme weiterentwickelt, so kann die kristallisierte Intelligenz (oder "Pragmatik der Intelligenz") in diesen Lebensabschnitten weiter zunehmen. Einbußen in der fluiden Intelligenz werden neurophysiologisch damit erklärt, dass mit zunehmendem Alter immer mehr Schädigungen im Zentralnervensystem auftreten und neuronale Prozesse störanfälliger werden. Dadurch ist die Plastizität des neuronalen Systems verringert, kognitive Flexibilität, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und Kapazität des Arbeitsgedächtnisses (als Merkmale der fluiden Intelligenz) sind reduziert (vgl. Kruse & Lehr, 1989). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Ausmaß der Schädigungen im Zentralnervensystem und die Störanfälligkeit neuronaler Prozesse vom Gesundheitszustand des Menschen sowie vom Grad kognitiver Aktivität in früheren Lebensjahren und in der Gegenwart beeinflusst sind. Es wird nicht bestritten, dass sich die Plastizität des neuronalen Systems mit zunehmendem Alter verringert; jedoch ist der Umfang der Einbußen und Verluste von Person zu Person verschieden.

Hier stellen sich mehrere Fragen. Wie kommt es zu Stabilität und Wachstum in der kristallisierten Intelligenz? Wodurch wird der Altersabfall im fluiden Bereich verursacht? Ist es die nachlassende Geschwindigkeit, die den Altersabfall verursacht? Auch bezüglich der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit stellt sich die Frage: Ist es die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung, der Ausführung, oder an welcher Stelle der Sequenz findet die Verlangsamung statt? Wo sind die ohne Zweifel feststellbaren Verlangsamungen in der Produktion kognitiver Ergebnisse, aus denen Leistungseinbußen resultieren, zu lokalisieren? Oder handelt es sich um eine Kumulation von Verlangsamungen, angefangen bei Wahrnehmungsvergleichen, bei den Reaktionszeiten, bei der motorischen Geschwindigkeit (vgl. Kliegl & Mayr, in diesem Band)?

Vorliegende Befunde lassen Zweifel daran aufkommen, dass die Altersabnahme in intellektuellen Fähigkeiten nur auf periphere sensumotorische Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und/oder schlichte Reaktionszeiteinbußen zurückzuführen ist. Es sind auch Alterseinbußen unter Bedingungen nachweisbar, in denen kein Zeitdruck induziert wird, zum Beispiel bei Matrizenaufgaben und Buchstabenserien. Weiterhin wurde gezeigt, dass bei zunehmender Schwierigkeit eines Problems die Bearbeitungszeit, aber auch die Anzahl der Fehler im Vergleich mit jüngeren Personen ansteigt. Unterschiede in der fluiden Intelligenz zwischen Älteren und Jüngeren bleiben auch bestehen, wenn Zugriffs- und Produktionsgeschwindigkeiten auspartialisiert werden.

Durch kognitives Training im Alter können Einbußen und Verluste in den kognitiven Basisoperationen verringert werden, was auf die (auch im Alter) gegebene Plastizität des neuronalen Systems hinweist (vgl. Fleischmann, 1993; Kliegl, Smith & Baltes, 1989; Oswald & Gunzelmann, 1994; Oswald & Rödel, 1995). Des weiteren dient dieses Training dazu, Verluste in einzelnen kognitiven Funktionen durch Erfahrungen und Wissen, größeren Überblick über ein bestimmtes Aufgabengebiet, Lern-, Gedächtnis- und Denkstrategien, Nutzung externer Gedächtnishilfen wenigstens teilweise auszugleichen.

Die Reduktion der "fluiden" Intelligenz wird kognitionspsychologisch auch mit einem Verlust der Fähigkeit zur Lösung von abstrakten Problemen, mit einer geringeren Tiefe der Informationsverarbeitung sowie mit einem Verlust an hierarchischen Integrationssystemen im Alter erklärt. Die Intelligenz im Alter sei durch den Wechsel von abstrakten zu konkreten Formen der Informationsverarbeitung und Problemlösung bestimmt (siehe dazu zum Beispiel Fleischmann, 1989). Dabei wird hervorgehoben, dass durch kognitives Training neue Strategien auch im Bereich des "abstrakten Problemlösens" erworben werden können, so dass die Intelligenzleistungen auch hier von dem aktuellen Training kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten beeinflusst sind (vgl. Fleischmann, 1993; Knopf, 1993; Oswald & Rödel, 1995).

Es ist zu berücksichtigen, dass im Laufe der menschlichen Entwicklung das kognitive Gesamtsystem einschließlich der Sensorik Funktionseinbußen erleidet, die vor allem im hohen Alter sichtbar werden (vgl. auch die Seattle Längsschnittstudie von Schaie, 1996). Diese Wechselwirkungen zwischen Sensorik und Intelligenz sind jüngst in der Berliner Altersstudie (Baltes, Mayer, Helmchen & Steinhagen-Thiessen, 1993) und in einer Reanalyse der Bonner Längsschnittstudie des Alterns von Rott (1995) herausgearbeitet worden. Darüber hinaus gibt es im höheren Alter Zusammenhänge zwischen fluider Intelligenz (Mechanik) und einer breit definierten Alltagskompetenz (Baltes, Mayr, Borchelt, Maas & Wilms, 1993).

Praktische Intelligenz

Praktische Intelligenz als Bewältigung alltagsbezogener Probleme

Die Differenzierung zwischen kristallisierter und fluider Intelligenz bildet, wie bereits hervorgehoben wurde, die zentrale theoretische Grundlage empirischer Studien zur Intelligenzentwicklung im Lebenslauf, vor allem zur Intelligenzentwicklung im Alter. Einige Autoren heben - in der Tradition einer funktionalistischen Argumentation stehend - hervor, dass sich Aussagen zur kognitiven Leistungsfähigkeit nicht allein auf Befunde stützen dürfen, die in Intelligenztests gewonnen wurden, sondern dass sie auch die Fähigkeit zur Lösung alltagsbezogener (oder alltagspraktischer) Anforderungen berücksichtigen müssen (Labouvie-Vief, 1985; Sternberg & Wagner, 1986). Die in Intelligenztests gestellten Aufgaben seien eher abstrakter" oder akademischer" Art. Mit ihnen würden Wissensinhalte, Fähigkeiten und Fertigkeiten erfasst, die in der schulischen und beruflichen Ausbildung vermittelt und trainiert werden, hingegen weniger Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Menschen in der Auseinandersetzung mit alltagsbezogenen Anforderungen (zum Beispiel im beruflichen Alltag, im Haushalt oder in der Freizeit) entwickelt haben. Die für die Bewältigung alltagsbezogener Anforderungen notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten werden mit dem Begriff der "praktischen Intelligenz" umschrieben, wobei von einzelnen Autoren auf die engen Zusammenhänge zwischen praktischer Intelligenz" und Alltagskompetenz" hingewiesen wird (Willis & Schaie, 1994). Das Konzept der "praktischen Intelligenz" ist bislang sowohl theoretisch als auch empirisch eher vage. Die Notwendigkeit stärkerer Betonung alltagsbezogener Anforderungen und ihrer Bewältigung wird zwar allgemein akzeptiert. jedoch wird in Zweifel gezogen, dass es sich bei der praktischen Intelligenz - wie von manchen Autoren behauptet - um eine eigene Komponente der Intelligenz (neben der kristallisierten und fluiden Intelligenz) handelt (siehe dazu Baltes, 1990). Versteht man unter praktischer Intelligenz bereichsspezifische Wissenssysteme, und zwar sowohl "faktisches" als auch "prozedurales" Wissen, so können die als wesentlich erachteten Merkmale der praktischen Intelligenz auch unter die kristallisierte Intelligenz subsumiert werden (und dabei als spezifische Variante dieser Intelligenzkomponente verstanden werden). Auf der anderen Seite geht aus Untersuchungen von Willis und Schaie (1986) hervor, dass Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Lösung alltagsbezogener Probleme sowohl mit Aufgaben korrelieren, die die kristallisierte Intelligenz erfassen, als auch mit Aufgaben, die die fluide Intelligenz erfassen. Somit ist der theoretische Ort des Konzepts der "praktischen Intelligenz" noch nicht eindeutig. Im folgenden soll auf einige Beiträge zum Konzept der "praktischen Intelligenz" eingegangen werden, da in ihnen eine veränderte Sicht der kognitiven Leistungsfähigkeit zum Ausdruck kommt (vgl. auch Kruse, 1990).


Veränderungen der Intelligenzstruktur im Erwachsenenalter?

Bereits zu Beginn der 80er Jahre wurde unter anderem von Labouvie-Vief (1980, 1982 a, 1982 b) die Annahme, dass nach dem Jugendalter keine strukturellen (qualitativen), sondern nur quantitative Veränderungen der Intelligenz aufträten, kritisch hinterfragt. Die Annahme der strukturellen Invarianz der Intelligenz nach dem Jugendalter wurde vor allem von Psychologen aufgestellt, die sich an die Theorie der kognitiven Entwicklung anlehnen, die von Jean Piaget erarbeitet wurde. (Eine ausführliche Darstellung dieser Theorie, der Methoden, die Piaget in seinen Studien eingesetzt hat, sowie der Ergebnisse, die in diesen Studien gewonnen wurden, findet sich in Montada, 1995; Piaget, 1983; Piaget & Inhelder, 1974.) In dieser Theorie wird kognitive Entwicklung als das Durchlaufen einer Stufensequenz aufgefasst, wobei sich mit dem Übergang zu höherwertigen Stufen die kognitiven Strukturen qualitativ verändern. Mit dem Erreichen der Stufe der formalen Operationen im Jugendalter ist die kognitive Entwicklung nach Piaget abgeschlossen. Nach dem Jugendalter finden - dieser Theorie zufolge - keine weiteren strukturellen Veränderungen der Intelligenz statt. Veränderungen der Intelligenz in den folgenden Lebensjahren sind aus diesem Grunde lediglich quantitativer Natur; es werden lediglich neue Inhalte in bestehende Strukturen integriert. Die Hypothese der strukturellen Invarianz nach dem Jugendalter wurde mit Nachdruck von Flavell (1970, 1979) vertreten. Labouvie-Vief (1985) bezieht sich in ihrer Kritik dieser Hypothese vor allem auf den Beitrag von Flavell (1979). Die Entwicklungsaufgaben im frühen, mittleren und späten Erwachsenenalter, so argumentiert Labouvie-Vief (1985), stellen an den Menschen neue Anforderungen. "Neu" sind diese Anforderungen in der Hinsicht, als sie verbindliche Entscheidungen und Handlungen nahe legen, das heißt auch, die Berücksichtigung der Konsequenzen erfordern, die aus diesen Entscheidungen und Handlungen hervorgehen. Im Jugendalter, so Labouvie-Vief, könne der Mensch Entscheidungen und Handlungen erproben", denn häufig sei mit diesen keine endgültige Festlegung der zukünftigen Entwicklung verbunden. Im Erwachsenenalter hätten hingegen Entscheidungen und Handlungen weit mehr Konsequenzen für die eigene Zukunft sowie für das Leben anderer; darüber hinaus stelle sich in wachsendem Maße die Aufgabe, für andere Menschen Verantwortung zu übernehmen (vgl. eine entsprechende Stufentheorie" bei Schaie, 1977). Mit der Hervorhebung der Verantwortung für andere Menschen spricht Labouvie-Vief eine Entwicklungsaufgabe an, die in vielen Veröffentlichungen als eine bedeutende Aufgabe des Erwachsenenalters und Alters beschrieben wird. Die Berücksichtigung möglicher Konsequenzen, die aus eigenen Entscheidungen und Handlungen hervorgehen, die Planung für die eigene Zukunft, sowie die Übernahme von Verantwortung für andere Menschen sind an Fähigkeiten und Fertigkeiten gebunden, die über die "akademische" Intelligenz hinausgehen. Sie werden von Labouvie-Vief (1985) unter dem Begriff "praktische Intelligenz" zusammengefasst. Wie bereits hervorgehoben wurde, ist dieser Begriff mit jenem der "Pragmatik" der Intelligenz (Baltes, 1990) verwandt, der das Wissen in bezug auf die Inhalte spezifischer Lebensbereiche sowie auf Strategien zu deren Bewältigung beschreibt. Den theoretischen und empirischen Beiträgen aus der Arbeitsgruppe von Paul B. Baltes zufolge finden im Erwachsenenalter und Alter weitere Differenzierungen und Transformationen der Wissenssysteme (,Pragmatik") statt - und zwar unter dem Einfluss von Erfahrungen, die in der reflektierten Auseinandersetzung mit Anforderungen aus verschiedenen Lebensbereichen sowie mit Lebensfragen gewonnen werden. jene Menschen, die in früheren Lebensjahren zahlreiche Erfahrungen gewonnen und verarbeitet sowie effektive Handlungsstrategien ausgebildet haben, verfügen auch im Alter über ein differenziertes (faktisches und prozedurales) Wissen und Urteilsvermögen.

Ein Beispiel für die im Lebenslauf entwickelten Wissenssysteme bilden jene "Stärken", die Klemp und McClelland (1986) in ihrer Untersuchung zum "intelligenten Handeln bei älteren Managern" ermittelt haben. Neben den grundlegenden kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten umfasst die praktische Intelligenz der untersuchten Personen: bereichsspezifisches Wissen und bereichsspezifische Strategien, hohe soziale Kompetenzen, verbunden mit der Fähigkeit und Bereitschaft, Gruppenprozesse zu kontrollieren, hohe Leistungsmotivation, ausgeprägtes und stabiles (leistungsbezogenes) Selbstkonzept (vgl. Kap. 4.1). Bei der Analyse der praktischen Intelligenz ist also ein Analyseansatz zu wählen, der - neben kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten - bereichsspezifische Erfahrungen und Wissenssysteme, die eingesetzten Strategien, die Motivation und das Selbstbild erfasst. Diese Aussage gilt nicht nur für die Analyse der praktischen Intelligenz im Beruf (die hier als Beispiel diente). Wenn andere Situationen ausgewählt werden (wie zum Beispiel die Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten oder die Bewältigung von Anforderungen im Alltag), so ist ebenfalls nach bereichsspezifischen Erfahrungen, Wissenssystemen und Strategien zu fragen.

Einflüsse auf Intelligenz

Auch im Bereich der Intelligenz ist der Entwicklungsprozess durch große interindividuelle Unterschiede charakterisiert. Entwicklungsprozesse verlaufen unterschiedlich schnell und unterschiedlich stark. Entwicklung im Erwachsenenalter und Alter ist ein differentieller, differenzierter und differenzierender Prozess. Zu der Unterschiedlichkeit trägt nicht nur bei, dass die Ausgangsbedingungen von Einzelpersonen verschieden sind, sondern - wie wir aus kohorten-orientierten Studien wissen - auch die Ausgangsbedingungen ganzer Generationen.

Ein umfassender Erklärungsansatz für diese Differenzierungen schließt biographische, kontextuelle, soziokulturelle und historische Faktoren ein, wie zum Beispiel Bildungskarriere, Beruf, sozioökonomischen Status, anregende oder einschränkende Umweltbedingungen, Kohortenunterschiede, Lebensstile (vgl. Gribbin, Schaie & Parham, 1980; Schaie, 1996). Eine stimulierende Umgebung, berufliches Training, biographische Einflüsse, Persönlichkeitsmerkmale, die sich als relevant für intellektuelle Entwicklung herausstellen, bieten also Ansatzpunkte für eine Erklärung der großen interindividuellen Unterschiede im Alternsprozess. Eine stimulierende Umgebung vermag einen intellektuellen Altersabbau zumindest deutlich zu verzögern, eine deprivierende Umgebung dagegen beschleunigt Abbauprozesse, wie durch einen Befund verdeutlicht werden konnte, wonach die Dauer des Aufenthaltes in einem Altersheim besonders bei niedrigem sozialen Status intelligenzmindernd wirkt (Rudinger, 1974). Man kann annehmen, dass sich mit wachsendem Alter die Effekte von umgebungsspezifischer Anregung und Deprivation häufen und miteinander interagieren. In Längsschnittstudien, wie der Bonner Längsschnittstudie des Alterns (Lehr & Thomae, 1987) und der Seattle Longitudinal Study (Schaie, 1996), finden sich dementsprechend zahlreiche Beziehungen zwischen Intelligenzmaßen und Merkmalen wie Aktivität im sozialen Bereich und in der Freizeit, Einstellung zur Zukunft, Einstellung zu anderen Menschen, Berufserfolg oder Streben nach Ausweitung des Interessenhorizonts. Diese Einflüsse wirken nicht unabhängig voneinander; auch sind sie in ihrer Kausalrichtung nicht eindeutig bestimmbar. Die Annahme reziproker Interaktionen über die Zeit erscheint plausibel, etwa derart, dass Personen mit hohem intellektuellen Ausgangsniveau bessere Chancen haben, eine gute Schulbildung zu erhalten, ihnen dadurch höhere Berufe offen stehen und sie eher einen mittleren oder hohen sozioökonomischen Status erlangen (vgl. Rudinger & Lantermann, 1980).

Die Anzahl und Intensität intellektueller Anregungsbedingungen scheint ausschlaggebend für die Erhaltung und Erhöhung des intellektuellen Leistungsniveaus auch im höheren Alter zu sein. Außerdem sind besser informierte Personen eher in der Lage, für die Erhaltung der Gesundheit durch körperliche Aktivität, gesunde Ernährung, Vermeidung von Risikofaktoren zu sorgen (vgl. Lehr, 1982). Die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Studie ILSE (Interdisziplinäre Langzeit- Studie des Erwachsenenalters) geht genau dieser Frage in einem längsschnittlich geplanten (1993-2001) Kohortenvergleich (1930/32, 1950/52) nach (Rudinger, Lehr, Kruse, Oswald, Ettrich & Rösler, 1993). Diese Einflüsse theoretisch und praktisch zu berücksichtigen, heißt aber auch, zu erkunden, unter welchen Bedingungen Wachstum, Stabilität oder Einbußen in Performanz- oder gar Kompetenzmaßen zu beobachten bzw. durch interventive Maßnahmen zu beeinflussen sind.

So kann die Umwelt nicht nur hinsichtlich sozialer und physikalischer Komponenten unangemessen sein, sondern auch hinsichtlich der kulturellen und intellektuellen Anregungsbedingungen und der Verfügbarkeit von unterstützenden Systemen. Wenn man einer kontextuellen Argumentation folgt, handelt es sich also um eine Differenzierung relevanter Umweltbedingungen, die gleichzeitig Erklärungsansätze für etwaige generelle oder differentielle kognitive Veränderungen im Alter bieten (vgl. Buss, 1977, Sansone & Berg, 1993)

Leistungsfähigkeit im Kontext der Lern- und Gedächtnisforschung   

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