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Lebensschule
 

 
Dr. med. Claudia Sies
Doktors Kolumne
Deine Sorgen - meine Sorgen?
Fähigkeit zum Glück
Zu wenig macht wütend
Zuviel und zu schnelle Befriedigung von Bedürfnissen ist genauso schlecht wie eine karge und harte Erziehung. Wenn wir warten, bis wir wirklich wissen, was uns fehlt und was wir wollen, können wir es dann auch direkt anstreben, ohne zu früh einen unbefriedigenden Ersatz dafür finden zu wollen.
 

Nicht lang genug

Von Dr. med. Claudia Sies

Was haben der schnelle Griff zur Zigarette, das Glas Alkohol zuviel oder das Aufschieben und Sich-Ablenken von Erledigungen gemeinsam mit dem Anschreien anderer Menschen (besonders Kinder)? Das Gemeinsame ist ein zu kurzer Spannungsbogen.

Obwohl diese Menschen um den langfristigen Schaden ihrer jeweiligen Verhaltensweisen wissen, wählen sie doch die kurzfristige Entlastung durch die möglichst rasche Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Wir alle leben bewusst oder unbewusst nach den Prinzipien von Gewinn und Verlust. Was wir allerdings für einen Gewinn oder einen Verlust halten, ist individuell sehr verschieden.

Menschen, die unter den oben beschriebenen Gewohnheiten leiden, einige davon nennt man Sucht, halten es für einen Gewinn, wenn sie ein aufkommendes Gefühl von Unbehagen oder Unsicherheit sofort zum Schweigen bringen. Sie übertönen diese sich meldenden unangenehmen Gefühle mit „Stoff“, entlasten sich durch Wegschauen von der zu erledigenden Aufgabe oder indem sie den Druck an Schwächere weitergeben.

Wieso können viele Menschen nicht warten, bis sie den inneren Punkt und die Qualität ihres unklarere Unbehagens entdeckt haben und dies an Ort und Stelle und auf die angemessene Art und Weise beruhigen und bereinigen?

Es sind nicht immer die in der Kindheit zu kurz gekommenen Gefühle und Bedürfnisse, die nun endlich gesättigt werden sollen. Nein, in vielen Fällen ist es sogar das Gegenteil, nämlich zu viel und zu schnelle Befriedigung von Wünschen. Das Verwöhnen ist eine genauso starke Verwahrlosung wie zu karge oder zu harte Erziehung. Hier wird das Kind nicht in seiner gefühlsmäßigen Welt verstanden, wenn es unzufrieden ist oder um etwas bittet.

Es wird missverstanden und mit materiellen Dingen statt mit Interesse, Aufmerksamkeit und Zeit für seine Bedürfnisse bedient. Wirkt das Kind unzufrieden, gibt es statt eines Gesprächs Spielzeug oder etwas zu essen, zu trinken. Von allem das Beste und viel davon. An dieser Methode, Unbehagen mit „Stoff“ zu beantworten oder sich anderweitig schnell zu entlasten, statt den notwendigen Einsatz zu leisten, kann man dann lebenslang kleben bleiben. Man muss verstehen - mindestens im Alter ab 16 Jahren - dass eigene Entwicklungsschritte weg von dieser Haltung gemacht werden müssen, um gut zu leben.

Dazu gehört vor allem, einen großen, langen Spannungsbogen zu entwickeln. Wir nennen das auch Frustrationstoleranz. Gemeint ist damit die Fähigkeit, Bedürfnisse aller Art daraufhin zu prüfen, welchen Preis man für ihre Befriedigung bezahlen muss und ob man das will.

Es gibt eine einfache Rechnung dafür: Wenn man es sich anfangs schwer macht, hat man es später leichter. Man kann es sich aber erst einmal leicht machen, dann hat man es halt später schwerer. Die Wahl hat man immer.

Doktors Kolumne, Rheinische Post, 14.6.2003

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