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aus: „Die Balint-Gruppe in Klinik und Praxis“, Band 5, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg, 1990, S. 98 - 113

Balint-Gruppenarbeit
mit Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten

Claudia Sies und Gertrud Wendl-Kempmann
 

Einleitung

Juristen sind ausgebildet, auf der bewussten Ebene über Konflikte aufgrund von Rechtsnormen zu entscheiden. In Wirklichkeit haben sie es immer auch mit ganzheitlichen Phänomenen zu tun. Das hieraus sich entwickelnde Dilemma wird von aufgeschlossenen Juristen oft schmerzhaft wahrgenommen. Die an die Oberfläche tretenden Konflikte haben tieferliegende Ursachen, für deren Erkennen und Handhabung Juristen sich zunächst nicht ausgerüstet fühlen. Aus diesem Insuffizienzgefühl, dem sie sich verständlicherweise nicht ausliefern wollen, entsteht leicht eine Abwertung unbewussten Phänomenen gegenüber. Wenn aber aufgrund von Ausbildungsangeboten entdeckt werden kann, dass diese Inkompetenz nicht bestehen bleiben müsste, entwickelt sich oft eine besondere Bereitschaft, diesen ganzheitlichen Zusammenhängen nachzugehen.

Ein solches Fortbildungsangebot entstand durch eine günstige Kombination in einer Ehe. Gertrud Wendl-Kempmann ist Psychoanalytikerin, Philipp Wendl ist Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München. Wendl entdeckte bei seiner Begegnung mit Psychoanalyse, was aus analytischer Erfahrung für die praktische juristische Arbeit bedeutsam werden könnte. Wendl-Kempmann transformierte das, was hierzu gebraucht wurde, durch Selektion des analytischen Wissens auf juristische Bedürfnisse. Aus diesem Dialog heraus initiierten Wendls entsprechende Fortbildungstagungen mit Balint-Gruppen, Prozessspielen und Selbsterfahrungsgruppen. Claudia Sies nahm als Psychoanalytikerin und Gruppenleiterin an solchen Fortbildungstagungen teil und lernte so diese Arbeitsweise kennen.

In der Verbindung Psychoanalyse - Jurisprudenz begegnen sich bei Wendls nicht in erster Linie zwei unterschiedliche fachdisziplinäre Theorien, sondern zwei Menschen, die sich unterschiedliche Schwerpunkte erarbeitet haben. Dadurch wurde der fachliche Austausch bereits in das jeweils praktisch Brauchbare und Nützliche hinein entwickelt. Bei dieser Zusammenarbeit wurden unterschiedliche Modelle erarbeitet, die im folgenden beschrieben werden.
 

Setting

Seit 1973 wurden auf Anregung von Wendl und Wendl-Kempmann an der neuerrichteten Deutschen Richterakademie Trierneben den sonstigen Fortbildungstagungen auch 1-2 Wochen dauernde Tagungen mit Balint-Gruppen, Prozessspielen und Selbsterfahrungsgruppen für Richter (Zivilrichter: v. a. Familienrichter, Strafrichter und Staatsanwälte) ca. zweimal im Jahr angeboten. Ähnliche Tagungen wurden später auch auf Landesebene in Bayern und Hessen durchgeführt. So muss z. B. in Bayern seit etwa 1978 jeder Richter im ersten Berufsjahr eine Woche lang an einer Prozessspieltagung teilnehmen; ähnlich in Hessen.

Die Tagungsangebote in Trier standen unter Themen wie

In Trier wurden jeweils 40 Teilnehmer eines solchen Kurses in vier Untergruppen aufgeteilt. Sie konnten selbst sowohl den Schwerpunkt ihrer Arbeit wählen (Balint-Gruppe, Prozessspiel, Selbsterfahrungsgruppe) wie auch die Zusammensetzung ihrer Untergruppe. Diese Freiwilligkeit der Wahl war v. a. deshalb so wichtig, weil eine gewisse Selbststeuerung bei der allgemeinen Unsicherheit dessen, was sie da erwartet, auf diese Weise aufrechterhalten blieb.

Vorwiegend Sicherheit suchende Teilnehmer entschieden sich für die Prozessspielgruppe, in der die bekannte juristische Arbeitsweise erwartet wurde. In dieser Gruppe wurden von allen Teilnehmern Rollen übernommen (Richter, Angeklagter, Verteidiger, Staatsanwalt sowie Zeugen). Es wurde ein vorgegebener Prozess gespielt und auf Video aufgenommen. Anschließend fanden eingehende Reflexionen über die Art  der Darstellung, die Art der Interaktion, die juristisch relevanten Inhalte und den Zusammenhang zwischen der jeweiligen Darstellung und den juristischen Ergebnissen statt.

Das Frappierende für die an dieser Gruppe beteiligten Juristen war die Erkenntnis, dass die Art der Darstellung, die ja viel unbewusstes Material des Einzelnen enthält, sehr wohl entscheidenden Einfluss auf die scheinbar so objektive Rechtsfindung im Prozess hatte.

Zu den Selbsterfahrungsgruppen entschlossen sich die experimentierfreudigsten Juristen, die bereit waren, sich unbewussten Vorgängen auszusetzen.

In die Balint-Gruppen schrieben sich die Juristen ein, die Erweiterungen ihrer berufsbezogenen Arbeit erhofften. Die Balint-Gruppen wurden hier sowohl in der klassischen Form durchgeführt wie auch in einer Form, die man als „Wiederbelebung der interaktionellen Szene im Rollenspiel" bezeichnen konnte.

Juristen, die an solchen Tagungen teilgenommen hatten, waren an einer Fortsetzung und Intensivierung interessiert. Für diese aufgeschlossenen Juristen richteten Wendls ab 1981 im Rahmen der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München eine kontinuierliche Fortbildung ein. Sie war zunächst auf ein Jahr konzipiert, je ein Drittel Prozessspielphase (wie oben beschrieben), ein Drittel Selbsterfahrungsgruppenteil und ein Drittel Balint-Gruppenarbeit. Auf Wunsch der Teilnehmer wurde diese Fortbildung jeweils verlängert.
 

Unterschiedliche Modelle der Balint-Gruppenarbeit

Wie oben angedeutet, haben sich unterschiedliche Modelle in der Balint-Gruppenarbeit mit Juristen herauskristallisiert und bewährt. Grundsätzlich fiel uns auf, dass Juristen direkter, nüchterner, nicht so vorsichtig reflektierend an die berichteten Fälle herangingen und ihre Interventionen über das Beziehungsgefüge nicht so lange auf die Goldwaage legten. Unser Eindruck war, dass das damit zusammenhing, dass es sich hier einerseits um intelligente, kräftige Menschen handelte, ihre Unbekümmertheit aber auch mit der mangelnden Erfahrung über die Ablesbarkeit tieferer Anteile in den eigenen Beiträgen zusammenhing. Ihre Abwehr zeigte sich in einem anderen Gewand: Sie bereiteten sich zunächst im juristischen Sinne gut vor, brachten viele Akten mit, untermauerten den Bericht perfektionistisch mit genauen Einzeldaten und verbrauchten damit viel Zeit zum Vortrag. Bald ging der Balint-Gruppenleiter dazu über, die Falldarstellung ohne Aktenmaterial anzuregen, nur aus der Erinnerung die spezifische Notsituation der Beteiligten mitzuteilen. Aus Angst vor der im Fall und in der aktuellen Gruppensituation steckenden Dynamik fiel es manchem schwer, auf diesen mitgebrachten Aktenpuffer zu verzichten.
 

Die klassische Balint-Gruppenarbeit

Eine besonders schwierige Aufgabe für den Familienrichter ist es, im Kontakt mit den betreffenden Kindern und Jugendlichen die Sorgerechts­regelung befriedigend zu gestalten.

Beispiel:

Ein Richter berichtet, wie ein 15jähriger Junge bei der Anhörung im Rahmen der Scheidung seiner Eltern kein Wort sagen wollte. Durch Nachfragen der Gruppenteilnehmer wurde deutlich, dass dieser Richter die Anhörung in eine permanente Befragung umgewandelt hatte. Gerade dieser Befragung entzog sich der Jugendliche durch sein Schweigen. Einzelne Gruppenteilnehmer konnten sich sehr gut in den schweigenden Jungen einfühlen und verstanden, dass gerade diese bohrenden Fragen ihn in dieses Verhalten zurücktrieben. Der Richter kam in die Ohnmachtsposition; trotz all seiner Fragen fühlte er sich hilflos dem Schweigen ausgeliefert.

Die mit dem Richter identifizierten Gruppenteilnehmer bearbeiteten diesen mit klugen Vorschlägen und bohrenden Fragen ihrerseits. Sie verwandelten ihre eigene Hilflosigkeit über aktives Zupackenwollen in scheinbare Überlegenheit und brauchten ihre Ohnmacht dann nicht mehr zu spüren. Das Spiel von Macht und Ohnmacht zwischen Richter und Jugendlichem aktualisierte sich auch im Erleben der Gruppe und wurde so für den Richter durchschaubar. Nun war der Weg frei für diejenigen Gruppenteilnehmer, die sich mit der verzweifelten Ohnmacht des Jugendlichen identifiziert hatten und spürten, wie dieser seine Ohnmacht über die Gestaltung der eigenen Zukunft nur durch die Macht seines Schweigens schützen konnte. Durch die Scheidung seiner Eltern war er in Loyalitätskonflikte gestürzt worden, aus denen er tatsächlich noch keinen Ausweg sah. Der Jugendliche hatte dieses Gespräch so verstanden, als ob er allein zuständig wäre für die Regelung seiner weiteren Zukunft und fühlte sich damit überfordert.

Der Balint-Gruppenleiter fragte bei dieser Gelegenheit, ob sich der Richter möglicherweise tatsächlich in seiner richterlichen Funktion entlasten wollte, indem er beabsichtigte, sein Urteil über die Sorgerechtsregelung von der Ansicht des Jugendlichen abhängig zu machen, und ihn nicht nur, wie es angemessen wäre, als wichtigen Informanten für seine Entscheidung angehört hatte. Der Balint-Gruppenleiter regte so eine dialogische Form der Gesprächsführung an und erfüllte damit seine eigene Funktion diesem Richter gegenüber. Er ermöglichte ihm auf diese Weise das Erleben seiner Beteiligung (Verantwortungsverschiebung) und regte damit eine andere Art des Umgangs mit dem Jugendlichen an.

Eine Schwierigkeit bereitet Familienrichtern auch die Anhörung kleiner Kinder. Nach dem neuen Familienrecht wird zur Ermittlung des Kindeswohls dem Richter zugemutet, Kinder ab dem Alter von ca. 2-3 Jahren anzuhören. Gerade auch dafür bewährt sich die Balint-Gruppenarbeit, weil der Richter hier die emotionale Beteiligung seiner ganzen Person erfährt und damit kontaktfähiger wird - auch kleinen Kindern gegenüber.

Beispiel:

Zwei Schwestern, 3- und 5jährig, sollen vom Richter im Rahmen einer Sorgerechtsregelung angehört werden. Beide Eltern wollen beide Kinder. Er berichtet in der Gruppe von seinen Schwierigkeiten in diesem Fall. Er habe die Mädchen allein einbestellt, um sie unbeeinflusst anhören zu können. Das 5jährige Mädchen erklärt wortgewandt, es wolle nur beim Vater bleiben, und die Schwester solle mitkommen. Dort habe es ein eigenes Zimmer, die Haushälterin sei freundlich, und es möge den Vater sowieso viel lieber. Das 3jährige Mädchen schweigt verlegen und sagt schließlich: „Ich will aber nicht weg von der Mama.“ Dem Richter ist bekannt, dass die Eltern erbittert miteinander streiten. Es kommt sogar zu körperlichen Tätlichkeiten.

Gruppenteilnehmer A: „Ich halte es da mit der allgemeinen Ansicht, kleine Kinder gehören immer zur Mutter!“
B: „Wieso, vielleicht ist doch der Vater geeigneter, das 5jährige Mädchen will doch zu ihm.“
C: „Warum soll man dann nicht das 3-Jährige zur Mutter und das 5jährige zum Vater gehen lassen, so wollten es die Kinder doch.“
D: „Ich halte solche Situation überhaupt ganz schlecht aus und finde sich herzzerreißend. Am liebsten entscheide ich ohne Anhörung so kleiner Kinder.“

Der vortragende Richter berichtet noch mehr von dem ausweglos erscheinenden Kampf zwischen diesen Eltern. Sie sind im Streit  verbunden und kommen trotz Scheidungswunsch gefühlsmäßig nicht auseinander. Der Richter tendiert zur Trennung der Kinder, legitimiert durch deren ihm gegenüber ausgesprochenen Wunsch.

Gruppenteilnehmer: „Wenn du damit ganz übereinstimmen würdest, hättest du den Fall wohl nicht vorgetragen.“

Durch diese und weitere Interventionen anderer Gruppenteilnehmer wird der Gruppenleiter angeregt zu der Frage, ob es sich hier nicht vielleicht auch um eine Verschiebung von Trennungsproblematik handeln könne: Die Eltern sind selbst noch ungetrennt voneinander. Sie versuchen, die Kinder unbewusst dazu zu bringen, die Trennung für sie zu vollziehen. Der Gruppenleiter nimmt den emotionalen Ausdruck „herzzerreißend“ auf, um daran zu zeigen, was den Kindern hier möglicherweise zugemutet wird. Sie sollen auseinandergerissen werden, obwohl die einzig gefühlsmäßige Stabilität im Moment in ihrer schwesterlichen Beziehung liegt. Die Gefahr, dass sie den Eltern objekthaft dienen sollen, wird klar. Sie sollen die Trennung übernehmen, weil die Eltern ihre eigenen Trennungsschritte noch nicht ausreichend vollzogen haben.

Der vortragende Richter: „Wieso sollen wir Kinder anhören, wenn wir das, was sie wollen, dann nicht im Urteil berücksichtigen?“

Der Gruppenleiter: „Jetzt verstehe ich, warum Sie Kinder nicht so gerne anhören. Sie verbinden damit auch die Annahme, dass Ihnen die Kinder die Verantwortung abnehmen würden, anstatt dass sie Ihnen nur wichtige Hinweise für Ihre Entscheidung geben. Was wir aus dem Gruppenverlauf sehen konnten, war, dass die Informationen, die die Kinder Ihnen gegeben haben, auf einer ganz anderen Ebene liegen: Neben der bewussten Mitteilung beider Kinder, die 5jährige will zum Vater, die 3-Jährige zur Mutter, wurde mithörbar: Wir müssen uns auseinanderreißen lassen, weil unsere Eltern sich nicht wirklich trennen können.“ Auch der vortragende Richter konnte nun Trennungsarbeit leisten, d. h. seine Eigenverantwortung übernehmen. Er hörte aufgrund der erweiternden (unbewussten) Information auf, Spielball der Trennungsverschiebung zu sein. Damit verschob auch er nicht mehr seine eigene, durch seine Rolle bedingte Verantwortung auf die Kinder und entschloss sich dazu, die Kinder nicht zu trennen.

Beispiel:

Eine Richterin berichtet über eine Anhörung der Mutter eines 5jährigen Mädchens im Rahmen der Besuchsregelung nach erfolgter Scheidung.

Die Mutter hatte gesagt: „Es ist unverantwortlich, meine Tochter zu Besuchen zu diesem Mann (gemeint ist der Vater) zu lassen. Jedesmal, wenn sie zurückkommt, beißt sie wieder Fingernägel und macht nachts ins Bett. Die Kindergärtnerin sagt auch, dass ich das in keinem Fall mehr zulassen dürfe.“

Die Schwierigkeit der Richterin bestand darin, dass sie die Frau dazu bewegen wollte, das Besuchsrecht des Vaters in angemessener Weise aufrechtzuerhalten. Sie habe bei der Scheidung den Vater kennen gelernt und den Eindruck gewonnen, dass er in keiner Weise unverantwortlich mit seiner Tochter umgehen würde.

Die Gruppe ist nach anfänglicher Ratlosigkeit in mehrere Lager aufgeteilt:
„Es hat doch keinen Sinn, das Kind weiter zum Vater zu schicken, wenn die Mutter so wenig damit einverstanden ist. Die Spannung hält das Kind nicht aus. Es braucht endlich Ruhe für seine weitere Entwicklung.“
- „Dem Vater kann man doch das Besuchsrecht nicht einfach verweigern. Er ist an seinem Kind interessiert, und dafür muss die Richterin jetzt sorgen.“
- „Wir wissen doch gar nicht, was das Kind möchte. Es ist in der Darstellung bisher völlig untergegangen.“
- „Die Richterin sollte abwarten, die Entscheidung vertagen und die Eltern selbst brauchbare Regelungen finden lassen, unter dem Druck und wenn sich von Staats wegen niemand mehr einmischt.“

Anschließend tauchen Ideen auf, was der Vater alles mit dem Kind anstellen könnte, wenn es nach einem Besuch so angespannt ist. Aggressive sexuelle Phantasien bilden sich. Andere Gruppenteilnehmer fühlen sich von der besitzergreifenden Mutter selbst erdrückt und würden dem Kind gern Luft verschaffen. In allen Äußerungen findet die Richterin eigene Ansichten und Gefühle wieder, wird dadurch zunächst aber eher noch entscheidungsunfähiger. Sie schließt sich einmal dem einen, dann dem anderen Gruppenteilnehmer an. Ihr Dilemma wird deutlich. Sie übernahm auch im konkreten Fall immer abwechselnd die Ansichten der Mutter und dann die schriftlich vorgetragenen Ansichten des Vaters. Genau wie in der Gruppe konnte sie auch der Familie gegenüber keinen eigenen Standpunkt vertreten. In der Gruppe konnte erarbeitet werden, dass ihr jeweiliges Nachgeben wohl zunächst eine kurze Zuneigung bei dem Argumentierenden hervorrief, auf Dauer aber eine unbefriedigende Gesamtsituation hinterließ. Die Richterin konnte nachvollziehen, dass sie, genau wie hier in der Gruppe, ihrem jeweiligen Gegenüber bereit war, recht zu geben, und damit keinen eigenen Rechtsstandpunkt finden konnte. Um es ihrem Gegenüber (hier der Mutter) recht machen zu können, hatte sie sogar ihre eigene sichere Wahrnehmung, dass der Vater sehr wohl geeignet wäre, einen positiven Einfluss auf das Kind auszuüben, ausgeblendet. In der Gruppe war diese Wahrnehmung der Richterin gespeichert worden und konnte ihr rückgemeldet werden. Gekoppelt wurde dies allerdings mit dem Hinweis, dass sie nun der Mutter gegenüber auf ihren Wunsch, von dieser geschätzt zu werden, verzichten müsste. An diesem Punkt kam in der Gruppe die Spannung des Kindes wieder in Erinnerung. Es stand wohl unter einer ähnlichen Spannung wie die Richterin, nämlich es dieser Mutter unter allen Umständen recht machen zu müssen (was in diesem Fall hieß, beweisen zu müssen, dass der Vater böse und ungeeignet sei) und sei es unter der Entwicklung von Symptomen. Die Anreicherung all dieser Momente durch die Gruppe erleichterte es der Richterin, ihren eigenen Standpunkt zu entdecken und ihn später vertreten zu können.

Beispiel:

Ein Rechtsanwalt berichtet über Schwierigkeiten mit einem Richter während eines Prozessverlaufs. Voll engagiert tritt er in der Gruppe für seinen Mandanten ein. Die Gruppenteilnehmer spüren den Eifer, mit dem er die Sache seines Mandanten vertritt. Ein Richter in der Gruppe: „Wenn du mir so kämst, würden sich mir alle Stacheln gegen dich und deinen Mandanten aufstellen.“ Der Anwalt ist sehr erstaunt, denn er war überzeugt, dass er mit seinem Engagement auch beim Richter das beste für seinen Mandanten erreichen würde. Als er merkt, dass auch die anderen Gruppenteilnehmer sich durch seinen Eifer immer mehr bedrängt fühlen und sich allmählich gegen ihn affektiv verbünden, ja sogar juristisch gegen ihn argumentieren, wurde ihm deutlich, warum der Richter in der Verhandlung so abweisend, fast verletzend reagierte.

Der Gruppenleiter griff dieses Geschehen auf: Erst waren die Gruppenteilnehmer beeindruckt von dem intensiven Einsatz für seinen Mandanten, dann fühlten sie sich zunehmend bedrängt von seinem spürbaren Versuch, sie einseitig zu beeinflussen. Um die eigene Position zu wahren, gerieten sie emotional in eine Antihaltung bis dahin, dass sie sich schützend ihm neue juristische Argumente entgegenhielten. Deutlich wurde auch durch die Mithilfe des Gruppenleiters, dass die bisher für objektiv gehaltenen juristischen Argumente dem emotionalen Schutz der Teilnehmer gegen zu gewaltsame Überzeugungskraft des Vortragenden diente. Als Fazit verstand auch der Anwalt, dass er sich dem drängenden Wunsch seines Mandanten, ganz auf dessen Seite zu sein, zu sehr unterworfen hatte, so wie er jetzt die Gruppenteilnehmer seinem drängenden Überzeugungswunsch unterwerfen wollte.

Ein Beispiel für Balint-Gruppenarbeit mit zivilrechtlichem Konflikt

An der Gruppe nahmen sechs Richter und sechs Anwälte teil. Ein Anwalt berichtet: Sein Mandant, ca. 60jährig, beruflich äußerst erfolgreich, von hohem öffentlichen Bekanntheitsgrad, sehr integer, hat folgendes Problem: Im Laufe seines Lebens hat er seiner Schwester immer wieder große Zuwendungen gemacht (Ländereien, Schmuck, Häuser). Vor kurzem verstarb die (verheiratete) Schwester, ohne ein Testament zu hinterlassen. Der Mandant fordert im Verlauf der Erbstreitigkeit diese Zuwendung von seinem Schwager weitgehend zurück. Der Schwager wollte dem auf keinen Fall stattgeben.

Nach einem spannenden Gruppenverlauf mit Phantasien über die emotionalen Beziehungen der Schwester zu Bruder und Ehemann wurde allen plötzlich klar. Es ging in erster Linie weniger um Schmuck, Häuser und Ländereien als vielmehr um die bisher unbewusst gebliebene Kränkung des Ehemanns, der er Zeit seiner Ehe ausgesetzt war. Die Kränkung bestand darin, dass seine Frau sich ihrem Bruder viel näher verbunden gefühlt hatte als ihm. Und auch der Bruder hatte ihn in tieferen Schichten nie ernsthaft als Ehemann seiner Schwester anerkannt, blieb selbst fast inzestuös mit ihr verbunden. Damit war für den Mandanten selbstverständlich, dass eigentlich aller Besitz seiner Schwester in „Gütergemeinschaft" ihm gehöre.

Mit dieser Erkenntnis über die tieferen Zusammenhänge neu ausgestattet, führte der Anwalt Gespräche, erst mit seinem eigenen Mandanten, dann mit dem Gegenanwalt und schließlich mit Mandant, Gegenanwalt und dessen Mandanten herbei, bei denen die Parteien, die sich schnell verstanden fühlten, zu neuen gütlichen Lösungen auch auf der materiellen Ebene fanden. Auch hier ging es um die Rücknahme einer Verschiebung emotionaler Konflikte auf eine materielle, juristisch fassbare Ebene.
 

Wiederbelebung der ursprünglichen interaktionellen Szene im Spiel

Eine Variante der Balint-Gruppe hat sich bei der Arbeit mit Juristen als wertvoll herauskristallisiert. Der Vortragende beschränkt sich nicht nur auf die Darstellung seines Falls, sondern wird aufgefordert, im Anschluss daran im Spiel die Rolle seines Kontrahenten zu übernehmen. Er wählt sich aus der Gruppe einen Richter aus, der seinen sonstigen Part übernimmt. Wenn dieser nicht weiterkommt, tritt ein anderer für ihn ein mit einem Einfall, wie er die Sache fortführen würde. Die sich anschließenden Interventionen der Gruppenteilnehmer werden wie in der „klassischen" Balint-Gruppenform beobachtet und interpretiert.

Beispiel

Ein Vormundschaftsrichter: „In so einem Fall können Sie mir auch nicht helfen. Die wirklich schweren Fälle lassen sich durch solche hilfreichen Versuche wie hier nicht lösen." Gedrängt von den anderen Gruppenteilnehmern erzählte er dann doch.
Zu seinem Arbeitsbereich gehört auch ein Gebiet mit vielen Verwahrlosten. Der Fall eines besonders verwahrlosten Jungen (12 Jahre) macht ihm sehr zu schaffen. Es geht um Automatenknacken, das Stehlen von Autoradios usw. Die Eltern sind erziehungsunfähig. Er soll über einen Antrag auf Entziehung des Sorgerechts entscheiden. In diesem Zusammenhang hörte er den Jungen an, der ihm in einer Weise frech kam, dass er den Kontakt zu ihm schließlich verärgert abbrach.
In der Gruppe übernimmt er es, die Rolle von Max, dem 12jährigen Bandenmitglied, zu spielen.

Die Szene: Der Richter sitzt am Schreibtisch, Max betritt flegelhaft den Raum. Richter: „Na, setz dich." Max: „Wieso?" Richter (freundlicher): „Na, möchtest du dich nicht setzen?" Max: „Nee." Richter: „Na gut, dann müssen wir es so besprechen" (bleibt sitzen). Max sagt nichts. Richter: „Du weißt doch, du hast... (zählt das Sündenregister auf). Du wirst verstehen, dass das nicht so weitergehen kann. Ich habe darüber nachgedacht, du musst aus deiner Familie rausgeholt werden. In ein Heim. Ich habe an das ...heim gedacht.“ Max: „Nee, mach ich nicht.“ Richter: „Es wird dir nichts helfen. Denn wir halten deine Eltern für nicht erziehungsfähig. Dann bekommst du einen Vormund, der deinen Aufenthalt bestimmt.“ Max: „Na, und was machen Sie, wenn ich da weglaufe? Sie können mich dort ja nicht anbinden.“ Der Richter schaut sich achselzuckend im Kreis um und weiß nicht weiter.

Der Gruppenleiter benutzt diese Pause, tun den bisherigen Ablauf gemeinsam zu reflektieren. Er fragt: „Wie ging es Ihnen, Max, als Sie den Raum betraten und der Vormundschaftsrichter hinter seinem Schreibtisch sitzen blieb?“ Dieser antwortet: „Ich wusste sofort, dass ist ein autoritärer Sack. Aber ich habe ja auch nichts anderes erwartet.“ Der Gruppenleiter: „Wie ging es Ihnen, als Sie gesehen haben, wie provozierend Max ins Zimmer kam?“ Der Richter: „Ich sah sofort, dass es sich hier tun einen ganz besonders schwierigen Jungen handelt. Aber das wusste ich ja schon aus den Akten.“

Die Gruppe erkannte, dass beide sich offenbar in Sekunden ihre jeweiligen Vorurteile bestätigt hatten. Es wurde von keinem der Versuch gemacht, diese aufzulösen. Folgerichtig schaukelte sich der Dialog weiter auf. Der Richter ordnet über-Ich-haft an (setz dich), der Junge sperrt mit einer provokativen (es-haften) Rückfrage (wieso). Der Richter versucht, immer mehr zu beherrschen und Kontrolle auszuüben, und diesem Versuch entzieht sich Max erfolgreich. Der Richter geht in die Belehrung, der Junge beweist seine Unbeherrschbarkeit. Der Dialog scheint aussichtslos.

Durch die Reflexion entstand die Bereitschaft, einen erneuten Spielversuch zu starten. Der Junge Max ist gleich besetzt, der Richter wechselt. Max kommt herein, der Richter springt eilfertig auf und streckt ihm freundlich die Hand entgegen. Der Junge zögert. Der Richter: „Du bist also Max P., wir kennen uns doch schon. Wie geht's dir denn jetzt?“ Max bleibt verstockt, antwortet nicht, schaut den Richter etwas irritiert an. Richter: „Wollen wir uns nicht einmal über Dich unterhalten. Du weißt doch, du bist da in eine dumme Sache hineingeschlittert. Was machen wir denn da?“ Max zuckt uninteressiert die Schultern. Nun der Richter: „Zu deinem eigenen Schutz wäre es doch das beste, wenn du jetzt in ein Heim kämst.“ Max knapp: „Nö.“ Der Richter bekommt nichts weiter aus ihm heraus. Die gleiche Ratlosigkeit entsteht. Das Spiel wird abgebrochen.

Die Gruppenteilnehmer äußern sich:
A: „Ich fand es besonders gemein, sich so devot in das Vertrauen des Jungen einzuschleichen.“
Der Richter in der Rolle von Max: „Ich habe sofort gemerkt, wie mir die Situation verdächtig wurde durch die Freundlichkeit, die da so dick aufgetragen war.“
Der Richter: „Was sollen wir denn noch? Erst war es zu unfreundlich, dann wieder zu freundlich.“
Der Gruppenleiter: „Sie sagen es ganz deutlich: Zu unfreundlich und zu freundlich; in zwei Richtungen ist es abgewichen. Das hat auch Max gespürt.“

Reflexion: Die Provokation ging schon mit den ersten Sätzen des vortragenden Vormundschaftsrichters los: Geringschätzig wurde die Gruppenarbeit abgetan. Die zugrundeliegende Thematik, nämlich, dass sich Über-Ich und Es gegenseitig bedingen, klang bereits hier an und wurde als Variation in den nachfolgenden Gesprächsversuchen weitergeführt. Der erste Richter kam von oben (Über-Ich), der zweite versuchte es mit Einschleichung in die vermeintlichen Bedürfnisse des Jungen vom Es her (Du bist da nur hineingeschlittert). Als Lösung für diese deutlich gewordene Beziehungsproblematik wurde in der Gruppe erarbeitet: Die ichhafte Position erscheint die einzig fruchtbare zu sein. Wenn es dem Richter gelänge, die Über-Ich-Position zu verlassen, sich jedoch auch nicht vom Es her anzubiedern sondern seine reale Richterrolle verantwortlich und Ich-haft zu besetzen und zu vertreten, entstünde eine Chance für einen kreativen Dialog. In einem weiteren Spiel wurde deutlich, dass jetzt nicht mehr von richtigem oder falschem Verhalten gesprochen werden konnte, das zu loben oder zu kritisieren war. Jeder konnte die eigene Identität im Kontakt zu diesem einmaligen Jugendlichen entdecken. Über diese neu erlebte Schiene gestaltete sich der Kontakt redlicher. Frappierend war die Einsicht, dass es plötzlich so viele „Richtigkeiten“ zwischen Richter und Jugendlichem gab, wie es anwesende Richter gab. Auch der den Jugendlichen Max spielende Richter erfuhr diese Befreiung im eigenen Erleben.

Der wirkungsvollste Dialog verlief folgendermaßen: Richter: „Grüß dich, Max.“ Und wartet. Zögernd kommt Max näher. Richter: „Ich hab dich herbestellt, weil ich was für dich ganz Wichtiges mit dir besprechen will. Es wird etwas dauern. Willst du dich hinsetzen?“ Ohne zu antworten setzt sich Max. Der Richter: „Kannst du dir denken, worum es geht?“ Max zuckt mit den Schultern. Richter: „Du weißt, du bist doch mal erwischt worden beim Automatenknacken mit deinem Freund. Ich glaube, deine Eltern sind nicht in der Lage, genügend auf dich aufzupassen, deswegen müssen wir jemanden finden, der dafür mehr geeignet ist. Ich habe an das ...heim gedacht. Du bist jetzt 12 Jahre. Mindestens bis die Schule zu Ende ist. Dann bist du 14.“ Max: „Ich will nicht in das Heim.“ Richter: „Das glaube ich, denn da geht es wirklich ganz anders zu, als du es bisher gewöhnt bist.“

Die Qualitäten dieses Dialogs bestehen in der Offenheit, Achtung vor dem Kind, Einfühlung in dessen Zeitbegriffe, ohne Max in die Position des hier allein Mächtigen hineinzumanövrieren. Max hat schnell erkannt, dass der Richter sich von ihm nicht abhängig machen lässt, sondern eine feste eigene Position bezieht, die er (Max) im eigenen Interesse ernst nehmen muss.

Sinn und Funktion zugelassener Selbsterfahrungsanteile in der BalintGruppe

Dieses Modell entwickelte sich in der 1- bis 3jährigen Fortbildungsarbeit mit Richtern und Anwälten, angeschlossen an die Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München. Wie bereits erwähnt, beginnen die Teilnehmer mit einer Prozessspielphase, in der sie in ihrer jeweiligen Rolle erfahren, wie Schwierigkeiten und Gelingen des Prozessverlaufs mit eigenem Erleben und Verhalten zusammenhängen. „Hierbei können die Teilnehmer erfahren, wie sie mit ihren jeweiligen persönlichen Fähigkeiten und Defiziten das Verhandlungs- und Steuerungsinstrument darstellen, und in welcher Richtung sie sich eine entsprechende Erweiterung wünschen“ (Wendl-Kempmann u. Wendl 1986, 268).

In der anschließenden Selbsterfahrungsgruppe erfahren sie mehr über ihre eigene unbewusste Beteiligung, diesmal ohne den Rollenschutz. In der anschließenden Balint-Gruppenphase zeigen sich die berufsspezifischen Auseinandersetzungen und ihr Zusammenhang mit den für alle sichtbar gewordenen unbewussten Motivationsmustern aller Teilnehmer. Die Balint-Gruppe in diesem Fortbildungszusammenhang bekommt natürlicherweise eine etwas andere Färbung, da manche aus der Selbsterfahrungsarbeit bereits bekannten Erlebnisweisen in die Beobachtung des Prozesses mit einbezogen werden. Neben der Bearbeitung des vorgetragenen Falls in klassischer Art diente dieser auch als „Auslöser“ für tieferes Verständnis der eigenen Erlebnisweise sowohl beim Vortragenden wie auch bei allen Interventionen der übrigen Teilnehmer. Durch das geplante Setting, mindestens ein Jahr miteinander zu arbeiten, blieb für den intensiveren Einstieg in die unbewussten Prozesse ausreichend Zeit. Es kam vor, dass ein Fall soviel Material für alle ergab, dass man eine ganze Sitzung damit beschäftigt war.

Ein Beispiel dafür, wie die inzwischen sensibilisierten Teilnehmer bereit sind, unbewusste Mitteilungen aufzunehmen und sie mit dem jeweils dargestellten Teil zu verknüpfen:

So erzählt ein Richter sehr distanziert von einem für ihn unverständlichen Streit mit einem Kollegen. Er betont dabei, dass es sich nur um fachliche Differenzen gehandelt habe, und der Kollege für sein Verständnis viel zu emotional darauf reagiert hätte. Ein Gruppenteilnehmer erinnert sich: „Das kenne wir doch von dir. Als wir mit unserer Arbeit begonnen haben, hast du uns erklärt, dass wir für dich alle gleich seien. Du fandest keinen von uns mehr oder weniger sympathisch oder unsympathisch. Jetzt bist du auch wieder so distanziert und wunderst dich, wenn der andere dann wütend wird.“ Ein anderer Gruppenteilnehmer springt dem Vortragenden zur Hilfe: „Hier handelt es sich doch nun wirklich um berufliche Dinge, die man nicht emotionalisieren sollte.“ Er bekam zu hören: „Damals hast du ihn genauso unterstützt. So als ob es den Wert eines Menschen ausmachen würde, dass er alles unter Kontrolle hält, besonders seine Empfindungen.“ Den beiden Verbündeten wird zurückgespiegelt: „Ihr glaubt, ihr seid nur im Beruf so kontrolliert. Aber auch hier, wo es nicht nötig wäre, reagiert ihr so zurückgenommen.“

Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass der vortragende Richter durch seine betonte Zurückhaltung dem streitbaren Kollegen zuviel Platz für dessen Aggressivität einräumte. Er konnte merken, dass er in einer tieferen Schicht an dem Zustandekommen dieses Vorgangs mitwirkte. Bisher war ihm unbekannt geblieben, dass sein distanziertes Zurücknehmen nicht nur die Gruppenteilnehmer aggressiv machte, sondern dass es auch auf dem scheinbar so neutralen Berufsboden diese unangenehmen Auswirkungen hatte. Insgesamt konnten die Gruppenteilnehmer erarbeiten, dass ihre „Kontrolliertheit“ nicht immer Ausdruck gesteuerten Verhaltens war, sondern oft unbewusst, sich automatisch und damit schädigend in der Situation auswirkte.

Beispiel

Eine Gruppenteilnehmerin hatte den Vorsitz in einem neuen Kollegium übernommen. Sie klagt in der Balint-Gruppe über die andauernde Arbeitsüberlastung. Die übrigen Teilnehmer lassen sich von ihr die Vorbereitung einer Sitzung im Gericht konkret schildern. Die Richterin erzählt: „Ich frage meinen beisitzenden Kollegen (der die Aufgabe hat, sich gründlich in den Einzelfall einzuarbeiten), wie er die Sachlage wohl beurteile. Er meint: Frau Vorsitzende, es würde mich überaus interessieren, wie Sie den Fall sehen.“ Die Gruppenteilnehmer: „Ja, und dann?“ - „Ich habe ihnen meine Einsichten natürlich mitgeteilt.“
Die Gruppenteilnehmer erinnerten sich an die Vorgänge in der Selbsterfahrungsgruppe. Damals war diese Richterin stets bereit gewesen, sofort einzuspringen, wenn sie irgendwo geglaubt hatte, gebraucht zu werden. Sie hatte z. B. in der Gruppe, wie andere auch, manchmal nicht gleich etwas zu sagen, strengte sich aber unendlich an, um etwas „hochzupumpen“, mit dem sie dann das Schweigen füllte und glaubte, Wichtiges für alle geleistet zu haben. Ihre untergebenen Arbeitskollegen hatten diese persönliche Schwäche erfasst und offenbar schnell für sich ausgenutzt. So ließen sie ihre Vorsitzende Richterin für sich arbeiten und fanden dadurch selbst Entlastung. Die anderen Gruppenteilnehmer spiegelten ihr zurück: „Du hast oft geglaubt, für uns Kastanien aus dem Feuer holen zu müssen. Für uns was das praktisch, und du hast dich überanstrengt. Den Glauben, dass du damit überlegen bist, haben wir dir lange gelassen.“ Die Berichtende konnte nach dieser Gruppensitzung merken, dass nicht die reale Berufsarbeit, wie sie dachte, sie so sehr überforderte, sondern dass es wieder die ihr bereits bekannte unbewusste motivierte Eigenüberforderung war, die schließlich drohte, sie auch beruflich in eine Sackgasse zu manövrieren.

Ein Ergebnisbericht

Ein Strafrichter (am Ende der zweijährigen berufsbezogenen Ausbildung) berichtet als Rückmeldung an die Balint-Gruppe: In einem Prozess gegen einen jungen Neonazi wollte er keine Anwesenheit von Polizei in der öffentlichen Verhandlung. Als er in den Sitzungssaal kam, gefüllt mit Sympathisanten des Angeklagten, fand er überall Polizei vor, sogar im Gang. Er wehrte sich energisch gegen die Missachtung seiner Anordnungen. Man versuchte, ihn zu beschwichtigen, die Polizei sei in erster Linie zu seinem Schutz eingesetzt. Er erzwang den sofortigen Abzug. Die Kräfte schaukelten sich infolge der Abwesenheit der Polizisten nicht in der sonst üblichen Weise gegenseitig hoch, und der Richter konnte sich seinem eigentlichen Anliegen zuwenden. In seinem durch die ausgiebige Fortbildungsarbeit gekräftigten neuen Verständnis wollte er sich intensiv auch um ein Verständnis der unbewussten Dynamik bei diesem jungen Neonazi kümmern und es im Kontakt zu ihm erhellen. Es entstand dadurch eine Beziehung zwischen den beiden, die für den Richter die Motivationslage des Angeklagten weitgehend durchsichtig werden ließ und dem Angeklagten erstmals die Erfahrung ermöglichte, dass sich jemand wirklich für ihn und seine Beweggründe interessierte - und diesmal sogar von Staats wegen. Er bedankte sich für die faire Verhandlungsführung und konnte seine Verurteilung akzeptieren.
Dass der vortragende Richter bei dem ganzen Geschehen vielleicht zu krass gegen die Polizisten vorgegangen war, wollte er anschließend in der Gruppe bearbeiten. Er selbst kannte sich ja schon als einen Menschen, der zu ungesteuerten Aggressionen neigte und anschließend vor Scherbenhaufen stand. In der Gruppe wurde erarbeitet, dass er zunächst doch wohl zu Recht für eine Entlastung der Verhandlung sorgend daran interessiert war, die Polizei zu entfernen; dass man auch gut verstehen konnte, wie wütend es ihn machte, dass diese sinnvolle Anordnung missachtet wurde. Durch die gemeinsame Gruppenerfahrung kam zusätzlich eine besondere Empfindlichkeit dieses Richters auf, die darin bestand, dass er bei Zuwendung, Schutz, Fürsorglichkeit und angebotener Nähe reflexartig aggressiv reagierte. So konnte seine Unsicherheit bezüglich seiner Reaktion auf die Polizei verständlicher werden.

Schlussbemerkung

Der Sinn dieser Balint-Gruppenarbeit wurde von den Teilnehmern darin erkannt, sich selbst zur Diskussion zu stellen und auf diese Weise Entwicklungsschritte sowohl in persönliche wie in berufliche Richtung zu vollziehen. Insgesamt konnte man bei der Begegnung der Juristen mit dieser für sie ganz neuen Arbeitsweise eine charakteristische Entwicklung beobachten: Über oft anfängliche Skepsis und Ablehnung, Interesse und persönliche Betroffenheit zu großer Aufgeschlossenheit und Zustimmung zu dieser Fortbildung. Besonders eindrucksvoll fasste das ein Richter nach einer zweiwöchigen Tagung in Trier in der abschließenden Plenumsdiskussion zusammen: „Wenn ich gewusst hätte, was mich hier erwartet, wäre ich sicher nicht gekommen.“ Und dann an die Gruppenleiter gewendet: „Sagen Sie bitte nie vorher, was hier geschieht, denn es hätte mir zutiefst leid getan, wenn ich diese mir wichtigen Erfahrungen hier nicht gemacht hätte.“

 
Literatur

Wendl-Kempmann G, Wendl P (1986) Partnerkrisen und Scheidung. Beck, München
 

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