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aus: www.duden.de
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2. Ursachen legasthener Erscheinungsbilder

In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg neigten Wissenschaftler in den USA und später auch in Deutschland dazu, die Legasthenie auf Unterrichtsfehler oder auf seelische Belastungen bei den betroffenen Kindern, z. B. durch Konflikte im Elternhaus, Erziehungsfehler der Eltern u. Ä. zurückzuführen. Hinweise auf Ursachen im Gehirn legasthenischer Kinder konnten im vergangenen Jahrhundert und bis in die 70er-Jahre unseres Jahrhunderts nicht nachgewiesen werden. Daher gab man der Schule oder den Eltern die Schuld am Schulversagen der legasthenen Kinder.

Mit der Entwicklung der neuen bildgebenden Verfahren zur Untersuchung von Hirnleistungen nahm die Erforschung der Legasthenieursachen und der Leistungsunterschiede zwischen legasthenen und gut lesenden Kindern einen bedeutsamen Aufschwung. Seit dem Ende der 70er- bzw. dem Beginn der 80er-Jahre wurden neue Forschungsergebnisse bekannt, vor allem aus den USA, aber auch aus England, den Niederlanden und mit einiger Verzögerung auch aus Deutschland.

Die Forschungsergebnisse aus den Jahren seit 1980 bestätigen zunehmend die Auffassung, dass an der Ausprägung einer familiären Legasthenie erbliche Ursachen beteiligt sind. Eine zweite Ursachengruppe sind Schädigungen, die im Mutterleib oder im zeitlichen Umkreis der Geburt wirksam waren. In jedem Fall handelt es sich um biologische Ursachen.

Zurzeit gibt es ein Mosaik von Einzelergebnissen aus verschiedenen Forschungsbereichen, die noch nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden können. Es scheint aber, dass so unterschiedliche Beobachtungen wie Sehprobleme und Schwierigkeiten der Lautunterscheidung (inneres Hören!), die im Verlauf der Legasthenieforschung zur Einteilung der Erscheinungsbilder in »visuelle Legasthenie« und »auditive Legasthenie« und zu manchen Kontroversen geführt haben, nunmehr erstmals auf gleichartige biologische Ursachen zurückgeführt werden können.

 
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Forschungsergebnisse zur visuellen und auditiven Verarbeitung

Gegen Ende der 70er-Jahre gab es erste Belege für die neurobiologische Grundlage der Legasthenie durch Untersuchungen von GALABURDA und Mitarbeitern aus dem Laboratorium von GESCHWIND, einem namhaften amerikanischen Neurologen. In Hirnschnitten verstorbener Legastheniker, für die aus ihrer Schulzeit eindeutige Diagnosen vorlagen, wurden feine Anomalien gefunden, und zwar in einer Reihe von Fällen übereinstimmend in Hirnarealen, die wesentlich an den Sprachfunktionen beteiligt sind. Diese Anomalien hängen mit Wanderungsstörungen der Hirnzellen zusammen, die schon im ersten Drittel der vorgeburtlichen Entwicklung in die Großhirnrinde aufsteigen. Daher sprechen diese Befunde dafür, dass Umwelteinflüsse oder kulturelle Einflüsse in der frühen Kindheit oder später als Ursachenfaktoren nicht in Frage kommen.

Weitere Forschungen konnten neben feinen Anomalien der Hirnrinde auch in tieferen Strukturen des Gehirns, die mit dem Sehen zu tun haben, im Vergleich zu normalen Verhältnissen minimale Fehlbildungen nachweisen. Dieses Ergebnis löste weitere Forschungsaktivitäten aus.

Untersuchungen zur Sehverarbeitung

Man wusste aus älteren Studien, dass etwa 75 Prozent der legasthenen Kinder in solchen Tests schwächer abschneiden, die rasche visuelle Informationsverarbeitung verlangen.

Daher untersuchte man zwei Verarbeitungskanäle der menschlichen Sehbahn, die ihren Anfang in unterschiedlichen Zellen der Netzhaut nehmen und zu zwei unterschiedlichen Zellschichten im linken seitlichen Kniehöcker führen, einer Schaltzentrale im Gehirn. Von dort werden die Seheindrücke in die Sehzentren der Hirnrinde weitergeleitet.

Die großen Zellen in dieser Schaltzentrale (großzelliger oder magnozellulärer Verarbeitungsweg) sind gewissermaßen farbenblind und empfindlich für schwache Kontraste, und sie verabeiten rasch aufeinander folgende bzw. sehr kurz anhaltende Seheindrücke. Die kleinen Zellen im Kniehöcker (kleinzelliger oder parvozellulärer Verarbeitungsweg) verarbeiten Farben, starke Kontraste und lang anhaltende bzw. unbewegte Sehreize. Außerdem sind sie für das räumliche Sehen zuständig.

LIVINGSTONE und andere Mitarbeiter aus dem Forschungslabor von GALABURDA fanden nun, dass erwachsene legasthene Versuchspersonen auf langsame oder kontrastreiche visuelle Reize genauso gut reagierten wie gute Leser. Bei schnell bewegten Reizen mit niedrigem Kontrast aber schnitten die legasthenen Versuchspersonen im Vergleich mit Erwachsenen ohne Leseschwächen deutlich schlechter ab (LIVINGSTONE u. a. 1991). Die Untersuchung von Hirnschnitten ehemals legasthener Personen zeigte, dass die großzelligen Schichten im seitlichen Kniehöcker von legasthenen Gehirnen weniger organisiert waren und kleinere Zellkörper enthielten im Vergleich mit Gehirnen von ehemals nichtlegasthenen Personen. Da das Lesen sehr rasche Informationsverarbeitung erfordert, kann die unzureichende Leistungsfähigkeit des großzelligen Verarbeitungskanals Leselern- und Leseschwierigkeiten mit visuellem Schwerpunkt erklären.

Untersuchungen zur Hörverarbeitung

TALLAL und Mitarbeiter (1985) untersuchten sprachverzögerte Kinder mit Leselernschwierigkeiten. Sie fanden, dass 98 Prozent der sprachbehinderten Kinder von Kontrollkindern allein mithilfe einer Testbatterie unterschieden werden konnten, die schnelle Sprachproduktion oder rasche Lautunterscheidung bzw. Unterscheidung von rasch aufeinander folgenden Berührungsreizen erforderte.

Damit konnte gezeigt werden, dass auch die Verarbeitung in den Hörbahnen bei legasthenen Kindern sehr häufig beeinträchtigt ist. Die Zellen der entsprechenden Schaltstelle im seitlichen Kniehöcker können kurz anklingende auditive Reize nicht verarbeiten. Daher ist es einem hohen Prozentsatz legasthener Menschen nicht möglich, die nur kurz anklingenden Konsonanten (vor allem b–p, d–t, g–k) und die ähnlichen Kurzvokale (o–u, i–e) zu unterscheiden.

In München ist man durch die Untersuchung der so genannten »Ordnungsschwelle« (PÖPPEL, 1988; v. STEINBÜCHEL 1996) auf deutlich verlangsamte Verarbeitung bei Patienten gestoßen, die infolge eines Schlaganfalls ihre Sprache verloren hatten. Als »Ordnungsschwelle« bezeichnet man den Zeitraum, der zwischen zwei Reizen liegen muss, damit man beurteilen kann, welcher der beiden Reize zuerst dargeboten wurde. Ein Erwachsener kann normalerweise eine korrekte Auskunft geben, wenn ihm über Kopfhörer z. B. ein Ton in das rechte und ein anderer in das linke Ohr gegeben wird und wenn beide Töne im Abstand von mindestens 40 Millisekunden aufeinander folgen. Erwachsene mit einer Sprachstörung nach einem Schlaganfall benötigten demgegenüber einen zeitlichen Abstand von mindestens 100 Millisekunden, um ein richtiges Urteil abzugeben. Eine ähnliche Verlangsamung fand man auch bei legasthenen Kindern. Zwar liegt die Ordnungsschwelle, also der nötige zeitliche Abstand zwischen zwei Reizen, bei Kindern im zweiten Schuljahr noch bei 100 bis 120 Millisekunden. Das ist entwicklungsbedingt. Leseschwache Schüler mit erhöhter Ordnungsschwelle aber brauchen etwa 200 und mehr Millisekunden, um sagen zu können, welchen Ton sie zuerst gehört haben.

Da ein Training der Ordnungsschwelle bei Schlaganfallpatienten mit einer Sprachbehinderung sich als erfolgreich erwiesen hat, wollen die Münchener Wissenschaftler versuchen herauszufinden, ob auch legasthene Kinder von einem solchen Training Gewinn haben.

Die Forschungsergebnisse zu Verarbeitungsproblemen in der Hörbahn können auch erklären, warum ein hoher Prozentsatz legasthener Kinder im Einschulungsalter spezielle Probleme mit der Sprache hat, wie in zahlreichen früheren Untersuchungen nachgewiesen wurde: Später als legasthen auffallende Kinder konnten bei Schulbeginn keine Reime finden, die Laute aus einem gesprochenen Wort nicht vollständig heraushören, vorgesprochene Wörter nicht in Silben gliedern, zwei Laute nicht zur Silbe verbinden u. a. mehr.

Legasthene Schwächen – Schwächen der raschen zeitlichen Verarbeitung

GALABURDA und Mitarbeiter nehmen einen Zusammenhang zwischen visuellen und auditiven Problemen an. Auch die Unterscheidung von Sprachlauten im gesprochenen Wort erfordert rasche auditive Verarbeitung. Ergebnisse aus früheren Untersuchungen (MCGUIRE 1989) weisen darauf hin, dass es nicht nur in der visuellen und auditiven Verarbeitung, sondern auch in anderen Wahrnehmungssystemen die Unterteilung in rasche und langsame Kanäle gibt, z. B. für Berührungsreize. Dann wäre auch zu erwarten, dass legasthene Kinder ebenso bei der Wahrnehmung von Melodie, Rhythmus und Bewegungen langsamer sind als andere Kinder.

 
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Spezielle Forschungsergebnisse aus Deutschland

In verschiedenen Universitäten Deutschlands bemüht man sich – meist in Zusammenarbeit zwischen Psychologie, Medizin und Biophysik – um die Erforschung der Legasthenie. Stellvertretend soll hier über zwei Forschungsgruppen berichtet werden, die bereits begonnen haben, spezielle Trainingsmethoden für die Wahrnehmungsbereiche Hören und Sehen zu entwickeln.

Legasthenie und Augenbewegungen

Im Institut für Hirnforschung der Universität in Freiburg/Breisgau werden seit einer Reihe von Jahren die unruhigen Blickbewegungen legasthener Kinder untersucht. Unruhige oder »erratische« Augenbewegungen sind mit dem bloßen Auge nicht unbedingt beobachtbar, können aber mit Messeinrichtungen gut erfasst werden. Während das Kind liest, wird mit einer Infrarotmethode gemessen, wie häufig, mit welcher Geschwindigkeit und in welche Richtung das Kind Blicksprünge macht. Normalerweise springt das Auge beim Lesen mehrmals in der Zeile gezielt von links nach rechts. Ein langer Blicksprung erfolgt dann vom Zeilenende nach vorn zur neuen Zeile. Bei einem relativ hohen Prozentsatz legasthener Kinder aber bewegen sich die Augen nicht in regelmäßigen Blicksprüngen nach rechts, sondern ganz unregelmäßig in unterschiedlich langen Blicksprüngen und in zufälliger Folge nach links oder rechts.

Dieses unruhige und ungesteuert erscheinende Verhalten der Augen ist seit langem bekannt. Ursprünglich haben die Forscher angenommen, dass vor allem die nach links gerichteten Blicksprünge der Korrektur des bereits Gelesenen dienen. Dann wären sie eine Folge der Leseschwäche. Dem widerspricht aber, dass auch ältere Kinder, die ihre Leseschwäche weitgehend kompensiert haben und bereits flüssig lesen, dennoch die gleichen erratischen Augenbewegungen zeigen.

Eine andere Annahme hielt die unruhigen Augenbewegungen für die Ursache der Legasthenie. Man müsse nur ruhige, nach rechts gerichtete Augenbewegungen einüben, um die Legasthenie zu beseitigen. Diese Annahme kann aber die Schwächen der Lautunterscheidung (Hörverarbeitung) nicht erklären, die bei vielen legasthenen Kindern zugleich mit den unruhigen Augenbewegungen zu beobachten sind.

Die Forschungen von BISCALDI und FISCHER richten sich auf die Verarbeitung in der Sehbahn, speziell auf das bereits erwähnte großzellige Verarbeitungssystem. Die folgende Darstellung entspricht weitgehend einem Beitrag, den BISCALDI und OTTO (1995) für die Zeitschrift des Bundesverbandes Legasthenie geschrieben haben:

Die magnozellulären Hirnzellen bilden das Verarbeitungssystem in der Sehbahn, das der Integration von Informationen zwischen Fixationen und Augenbewegungen dient (LOVEGROVE 1982). Signale aus diesem System werden bis in Gebiete der Hirnrinde weitergeleitet, die auch an der Steuerung von Augenbewegungen beteiligt sind.

Es besteht die Möglichkeit, Augenbewegungen – insbesondere Blicksprünge, wie sie beim Lesen durchgeführt werden – zu untersuchen. Dazu werden einer Person auf einem Computerbildschirm Punkte gezeigt, zu denen sie hinüberblicken soll. Die sprunghaften Augenbewegungen können dabei mit einer einfachen Infrarotmethode gemessen werden.

Es wurden nun solche Augenbewegungen bei Legasthenikern vieler verschiedener Altersgruppen untersucht, angefangen bei achtjährigen Kindern bis hin zu Erwachsenen. Die meisten Legastheniker zeigten sehr auffällige augenmotorische Charakteristika.

Die Fähigkeit, einen Punkt ruhig zu fixieren, ist bei ihnen eingeschränkt. Häufig ist ein Blicksprung zu kurz und muss – damit die Augen das Blickziel dennoch erreichen – mit einem zweiten Blicksprung korrigiert werden.

»Eine wichtige Aussage erhalten wir über die Zeit zwischen dem Auftauchen eines Blickziels bis zum Beginn einer Augenbewegung, die Reaktionszeit. Diese Reaktionszeit ist bei einer Gruppe von Legasthenikern extrem verkürzt. Häufig sind die Prozesse, die einen Blicksprung vorbereiten, sogar schon abgeschlossen, bevor das Blickziel erscheint. Solche Legastheniker scheinen eine dauernd erhöhte Bereitschaft zu haben, Blicksprünge durchzuführen.« (BISCALDI und OTTO 1995)

Was bedeuten diese Ergebnisse für das Lesen? Beim Lesen wechseln sich Blicksprünge und Fixationen immer wieder ab. Eine visuelle Information (z. B. eine Gruppe von Buchstaben) kann jedoch nur während einer Fixation aufgenommen und verarbeitet werden, wenn das Auge ruht. Während der Dauer der Fixation ist die visuelle Aufmerksamkeit auf den aktuellen Punkt des Interesses gerichtet. Das heißt, die Hirnzellen, die an den Prozessen der Aufmerksamkeit und der Fixation beteiligt sind, sind in diesem Moment aktiv und hemmen zugleich jene Zellen, die eine Blickbewegung steuern: Eine Augenbewegung wird »verboten«.

Bei einer Gruppe von Legasthenikern ist diese Hemmung nicht ausreichend. Es ist bekannt, dass beim Lesen eine optimale »Landeposition« der Augen innerhalb eines Wortes existiert, an der das Erkennen eines Wortes am besten gelingt. Legastheniker, die zu viele Blicksprünge machen und sich häufig korrigieren müssen, könnten diese optimale Landeposition oft verfehlen.

Wenn nach der Aufnahme einer Information eine Augenbewegung zum nächsten Punkt des Interesses – etwa einem neuen Wortteil – durchgeführt werden soll, muss zuerst die Aufmerksamkeit vom vorherigen Punkt des Interesses gelöst werden. Dem Fixationssystem wird damit signalisiert: Die Fixation kann beendet werden. Ein Blicksprung wird nun »erlaubt«.

Dieses ständige Umschalten zwischen Augenbewegungen und Fixationen muss sehr präzise und koordiniert erfolgen, damit eine sinnvolle Informationsverarbeitung möglich wird. Bei einer weiteren Gruppe von Legasthenikern fanden wir jedoch diese Umschaltprozesse beeinträchtigt. Dies führt, wenn das beim Lesen ebenso ist, zu einer Unregelmäßigkeit der Fixationsdauer, deren Länge sich nicht – wie es sonst beim Lesen der Fall ist – an der Schwierigkeit der Wörter orientiert.

Dies bedeutet, dass vorzeitige und unregelmäßige Blicksprünge zwar nicht die Ursache der Legasthenie sind, sie erschweren aber das Lesen zusätzlich zu anderen Beeinträchtigungen. Die Ergebnisse aus diesem Forschungsbereich eröffnen möglicherweise die Chance, durch ein spezifisches Training auf das großzellige Verarbeitungssystem indirekt einzuwirken und dadurch die zu schnellen Blicksprünge zu verhindern und die Fixationen zu stabilisieren.

Untersuchungen zur auditiven Analyse

Bei der auditiven Analyse geht es nicht allein um die genaue Unterscheidung ähnlicher Sprachlaute sondern auch darum, aus dem Redestrom alle Laute in der richtigen Reihenfolge herauszuhören. Im Audiologischen Zentrum der Kliniken der Stadt Düsseldorf werden seit etwa zehn Jahren zentrale Hörstörungen bei sprachbehinderten und legasthenen Kindern untersucht. Der folgende Bericht ist dem Kongressband des Bundesverbandes Legasthenie von 1994 entnommen.

»Unter zentraler Fehlhörigkeit verstehen wir einen qualitativen Hörverlust im Bereich der zentralen Hörbahn bei normaler Hörschwelle. Bei Patienten mit einer zentralen Fehlhörigkeit bleibt die Wahrnehmung von leisen und lauten Tönen praktisch unbeeinflusst. Geräusche werden aber erheblich lauter als normal gehört. Signale mit Geräuschcharakter, z. B. gesprochene Konsonanten, werden aber nicht nur lauter, sondern auch weniger differenziert gehört. ... [Das] ... führt in akustisch komplexen Situationen zu Hörproblemen, z. B., wenn durcheinander gesprochen wird, bei Nebengeräuschen oder in halligen Räumen. In ruhiger Atmosphäre hört der Fehlhörige dagegen annähernd normal.«

Neben dem veränderten Hören von Sprache, das wegen der unzureichenden Möglichkeiten der Lautunterscheidung zu Rechtschreibproblemen führen muss, fanden ESSER und Mitarbeiter weitere Qualitätsmerkmale des Hörens bei zentraler Fehlhörigkeit:

Bei gleichzeitiger Darbietung verschiedener Wörter über Kopfhörer in beide Ohren (dichotisches Hören) kann ein normal hörendes Kind überwiegend beide Wörter verstehen und anschließend wiedergeben. Zentral fehlhörige Kinder lassen in diesem Test Beeinträchtigungen erkennen. Bei ihnen können rechtes und linkes Gehör offensichtlich nicht unabhängig voneinander wahrnehmen. Die über beide Ohren aufgenommenen unterschiedlichen Informationen stören sich gegenseitig.

Ein weiteres Qualitätsmerkmal betrifft die zeitliche Verlangsamung der Hörverarbeitung, wie sie auch TALLAL und v. STEINBÜCHEL festgestellt haben.

Das letzte Qualitätsmerkmal besteht in einer mangelhaften »Filterfunktion« des Gehörs: Einen bestimmten Sprecher aus einem »akustischen Salat« von Störgeräuschen und anderen Sprechern herauszuhören und zu verstehen stellt eine Höchstleistung menschlichen Hörens dar. Man spricht hier auch vom »Party-Effekt«: Auf einer Party, wo viele Menschen durcheinander sprechen, kann man sich normalerweise auf einzelne Stimmen konzentrieren. Diese Sprachwahrnehmungsleistung ist bei zentral fehlhörigen Menschen erheblich herabgesetzt. In einer speziellen Untersuchung fanden Esser und Mitarbeiter, »dass die Schallintensität des Partygeräusches auf ein Viertel zurückgehen müsste, damit die Gruppe der Fehlhörigen die gleiche Sprachwahrnehmungsleistung erreicht wie die normal Hörenden« (ESSER u. a. 1994).

Für die Schule bedeutet das mehr als nur eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Wie eine zentrale Fehlhörigkeit das Verhalten eines Kindes in der Klasse bestimmt und zu Fehlbeurteilungen führen kann, ist der folgenden Beschreibung zu entnehmen. Die Klassenlehrerin berichtet:

»F. macht häufig einen schulunlustigen, gelangweilten Eindruck. Gelegentlich guckt er minutenlang vor sich hin und scheint völlig abwesend zu sein, oder er albert herum und gibt freche Antworten. Er arbeitet nur, wenn eine Lehrkraft neben ihm sitzt. Er hat keinen Ehrgeiz, fertig zu werden, und schafft manchmal nur sehr wenig. Bei mündlichen Anweisungen fragt er oft nach und hört bei Erklärungen nur zu, wenn er als Einzelperson angesprochen wird. Erklärungen im Klassenverband sind für ihn wirkungslos, da er nicht hinhört.

Aufgrund von Leseproblemen bestehen Schwierigkeiten bei Sachaufgaben. F. kennt alle Buchstaben. Er kann sie benennen und schreiben. Ein fehlerhaftes Abschreiben ... ist möglich. Unbekannte Texte kann er jedoch nicht erlesen.«

Demgegenüber scheint die Sonderschullehrerin, die eine Untersuchung wegen Verdachts auf Sonderschulbedürftigkeit bei F. durchgeführt hat in einer ruhigen Einzelsituation – ein völlig anderes Kind zu beschreiben:

»F. war während der Untersuchung motiviert, ehrgeizig und sehr bemüht, die an ihn gestellten Anforderungen so gut wie möglich zu erfüllen. Der Intelligenztest ergab einen überdurchschnittlichen IQ. Stärken fanden sich in der visuellen Merkfähigkeit und beim logischen Schlussfolgern.«
ESSER und Mitarbeiter haben ein Trainingsgerät entwickelt, mit dem gesprochene Sprache zeitgleich in farbige Bilder umgesetzt wird, sodass das Kind seine eigene Sprache visuell kontrollieren kann. Mit diesem Gerät ist es möglich, fehlhörige Kinder im Spracherwerb und in der frühesten Phase des Schreibens von kurzen, lautgetreuen Wörtern zu unterstützen.

Dennoch: Legasthenie ist nicht heilbar

Bei allen Bemühungen, legasthenen Kindern Erleichterungen beim Lesenlernen und beim Lesen zu verschaffen, darf nicht vergessen werden, dass es unterschiedliche Erscheinungsbilder und unterschiedliche Kombinationen von Teilleistungsschwächen gibt. In der Regel haben selbst zentral fehlhörige Kinder weitere Teilleistungsschwächen in anderen Wahrnehmungsbereichen, wie z. B. die Tendenz, Buchstaben zu spiegeln, oder feinmotorische Probleme. Auch wenn die neuen Forschungsergebnisse zu Trainingsmöglichkeiten führen, die nicht erst beim Wort, sondern schon in den Verarbeitungskanälen der Wahrnehmung ansetzen, muss nach wie vor betont werden:
Legasthenie ist nicht heilbar.

Alle Hilfen können letztlich nur darauf hinauslaufen, die Voraussetzungen für das Lesen und Schreiben in Teilbereichen zu bessern. Im Übrigen aber bleibt es dabei, dass den Kindern Wege zur Kompensation ihrer Schwächen angeboten werden müssen. Und da gilt die Regel Goethes: Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen! Das bedeutet in diesem Zusammenhang: Förderansätze sollten in mehreren Wahrnehmungsbereichen ansetzen.

 
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Legasthenieursachen und spezielle Begabungen

Was nun die biologischen Ursachen im engeren Sinne angeht, zeichnet GALABURDA nach dem derzeitigen Stand der Forschung das wahrscheinliche Entwicklungsgeschehen wie folgt auf: Etwa in der Mitte der Schwangerschaft verursacht ein Gen eine Disposition für Mangeldurchblutungen im Gehirn, das sich in rascher Entwicklung befindet. Diese Mangelversorgung löst abnorme Zellwanderungen aus, die im Verlauf der weiteren Hirnentwicklung zu feinen Fehlbildungen und zu Fehlvernetzungen führen. Betroffen sind vor allem die Hirnareale, die mit Sprachfunktionen zu tun haben, aber auch tiefer liegende, an der Verarbeitung visueller und auditiver Reize beteiligte Hirnstrukturen. Die Strukturen der rechten Hirnhälfte scheinen weniger betroffen zu sein. In manchen Regionen haben die Forscher sogar eine günstigere Entwicklung im Vergleich zu normalen Verhältnissen gefunden.

Wenn man sich diese Darstellung zu Eigen macht, leuchtet ein, dass die entsprechenden Entwicklungen zwar einem generellen Muster folgen, aber nicht zu identischen Ergebnissen führen. Auf diese Weise lassen sich die unterschiedlichen Erscheinungsbilder von Legasthenien erklären. Das gilt auch für die beobachteten auditiven bzw. visuellen Schwerpunkte der Legasthenie. Die Forschungsergebnisse bieten nicht zuletzt auch eine Erklärung für die mit der Legasthenie häufig verbundenen besonderen mathematisch-technischen und musischen Begabungen, die wesentlich auf Funktionen der rechten Hirnhälfte zurückgehen. Diese scheint von den Entwicklungshemmungen der linken zu profitieren. GALABURDA fasst die andersartige Begabungsstruktur legasthenischer Menschen daher als eine für das Überleben der Menschheit wichtige Normvariante auf. Legasthenie sollte, wie Linkshändigkeit, nicht als eine Anomalität verstanden werden, sondern als ein Zeichen für besondere Begabungen im nichtsprachlichen Bereich!

3. Möglichkeiten der Hilfe in Kindergarten und Schule  

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